Die Aufarbeitung von sicherheitsrelevanten Vorfällen in Unternehmen stellt eine grosse Herausforderung dar. Lukas Matter, Leiter SQU Region Mitte bei SBB Infrastruktur, zeigte im QQ-Impuls auf, worauf zu achten ist, dass die Direktbetroffenen unter schwierigen Umständen offen und transparent Auskunft geben, um das System verbessern zu können. Zudem präsentierte er uns, welche Auswirkungen diese Thematik auf die Unternehmenskultur hat.
Wenn ein sicherheitsrelevantes Ereignis im Unternehmen registriert wird, dann wurde meist entweder eine Richtlinie oder eine Sicherheitsmassnahme verletzt. Manchmal steckt aber auch ein systematischer Fehler dahinter. Die Aufarbeitung von solchen Vorfällen stellt eine grosse Herausforderung dar: So müssen die Analyseverantwortlichen erstens verstehen, was passiert ist, zweitens plausibilisieren, ob die einzelnen Puzzle-Teile an Informationen zusammenpassen, und drittens objektiv bleiben, um nicht Opfer der eigenen Erwartungshaltung zu werden.
Bei Vorfällen mit Personenschäden drohen zusätzlich immer auch juristische Konsequenzen für die Beteiligten, da es sich dabei um Offizialdelikte handelt, bei denen Polizei und Staatsanwaltschaft von sich aus aktiv werden müssen.
Lukas Matter, Leiter SQU Region Mitte bei SBB Infrastruktur, zeigte uns im QQ-Impuls auf, wie es in Unternehmen mit «safety»-relevanten Aktivitäten gelingen kann, dass die Direktbetroffenen selbst unter diesen schwierigen Umständen offen und transparent Auskunft geben, um das System bzw. das Unternehmen verbessern zu können. Zudem präsentiert er, welche Auswirkungen diese Thematik auf die Unternehmenskultur hat.
Fehler sind Teil unseres Arbeitsalltags und lassen sich selten komplett vermeiden. Entscheidend ist dabei der konstruktive Umgang, der es ermöglicht, dass das gesamte Unternehmen von den Fehlern lernt.
Unternehmen, die in einem risikoreichen Umfeld tätig sind, wie zum Beispiel in der Luftfahrt oder im Bahnbetrieb, wissen dies seit Langem und arbeiten laufend an ihrer Fehler- und Vertrauenskultur. Sie haben eine sogenannte «Safety Culture» etabliert. Das machen sie primär, um das Kundenvertrauen zu fördern. Aber auch, um ein gegenseitiges Vertrauen – von den Mitarbeitenden zum Unternehmen sowie vom Unternehmen zu den Mitarbeitenden – aufzubauen. Dieses Vertrauen schafft die notwendige Basis, damit Fehler überhaupt gemeldet werden.
Mit einer funktionierenden Meldekultur können künftige Fehler vermieden und die Produktivität gesteigert werden. Eine funktionierende Fehler- bzw. Meldekultur macht das Unternehmen nachhaltig sicherer und erfolgreicher.
Wie kann ich das erreichen? Da gibt es verschiedene Wege:
Du kannst ein Studium machen und von den wissenschaftlichen Erkenntnissen wie auch von den Praxiserfahrungen der Dozierenden profitieren.
Zusätzlich kannst Du vom Wissen aus der Praxis profitieren, indem Du analysierst, wie sicherheitsaffine Branchen das Risk & Safety Management organisieren.
So kannst Du Dich informieren, wie dies zum Beispiel bei der Luftfahrt, bei der Bahn oder in Kernkraftwerken angegangen wird. Eine Auswahl der dort angewandten Methoden kannst Du dann auf das eigene Unternehmen transferieren.
Doch wo soll man beginnen? Wie kann man vorgehen? Übergeordnetes Ziel ist eine «Safety Culture» bzw. in Deutsch auch «Sicherheitskultur» genannt. Obschon «Safety Culture» passender ist, da «Sicherheit» nicht nur «Safety» umfasst, sondern auch «Security» bedeuten kann.
Bei der «Safety Culture» gehen wir vom Positiven im Menschen aus und möchten aus den Fehlern lernen. Im Bereich der «Security» beschäftigt man sich hingegen mit Massnahmen zum Schutz vor böswilligen Absichten. Das ist nicht Ziel einer «Safety Culture».
«Safety Culture» umfasst unter anderem folgende Fachgebiete:
- Just Culture: Dies beschreibt eine Unternehmenskultur, in der Mitarbeitende oder andere Personen nicht für Handlungen, Unterlassungen oder Entscheidungen, die ihrer Erfahrung und Aus- bzw. Weiterbildung entsprechen, bestraft werden. Grobfahrlässigkeit, vorsätzliche Verstösse und destruktives Handeln werden hingegen nicht toleriert.
- HRO (hochzuverlässige Organisationen): Hochzuverlässige Organisationen umfassen in der Schweiz zum Beispiel die kritischen Infrastrukturen. Zu den fünf Prinzipien einer HRO gehören Streben nach Flexibilität, Sensibilität für betriebliche Abläufe, Abneigung gegen vereinfachende Interpretationen, Konzentration auf Fehler und Respekt vor fachlichem Wissen und Können.
- Safety II: Im Gegensatz zu Safety-I (Fehler analysieren) verfolgt Safety-II (aus Erfolg lernen) einen proaktiven Ansatz und konzentriert sich auf die Arbeitsweise. Dies soll den Mitarbeitenden ein dynamisches Streben nach Sicherheit und Effektivität ermöglichen. Das ist vor allem bei konkurrierenden Zielen, begrenzten Ressourcen und hohem Arbeitsdruck sehr hilfreich.
- Fehlerkultur: Als Fehlerkultur oder Fehlermanagement bezeichnet man die Art, wie im Unternehmen mit Fehlern umgegangen wird. Eine positive bzw. gute Fehlerkultur setzt sich offen und ohne Schuldzuweisung mit Fehlern auseinander und nutzt diese, um sich weiterzuentwickeln.
- Fairness Guidelines: Hier handelt es sich
um definierte Richtlinien zu den folgenden Punkten:
o Fairness (Wir gehen bei Fehlern gerecht miteinander um, sanktionieren aber Fahrlässigkeit oder Vorsatz)
o Offenheit (Wir reden offen miteinander, auch über abweichende und unsichere Handlungen)
o Weiterentwicklung (Gemeinsam nutzen wir die Chance uns stetig zu verbessern)
o Achtsamkeit & vorausschauendes Handeln (Wir sind achtsam und handeln mit Weitsicht)
Was ist Sicherheitskultur?
Schon im Sprichwort heisst es: «Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse.» So zeigt sich erst, wie erfolgreich bzw. etabliert eine Sicherheitskultur ist, wenn die Mitarbeitenden «unter sich» sind.
Die nachfolgenden zwei exemplarischen Beispiele zeigen, dass jeder Fall anders ist. Es müssen immer die verschiedenen Umstände berücksichtigt werden sowie die Rahmenbedingungen, um optimal mit den Ereignissen umgehen zu können.
Situation 1
Lok-Kollison mit Zug
Was ist passiert? Zwei Loks kollidierten im Bahnhof Zollikofen mit einem Bauzug. Die zwei Loks waren auf dem Weg vom Oberland ins Mittelland. Der Lokführer wurde dabei verletzt. Es müssen verschiedene Sicherheitsvorgaben und Signale missachtet worden sein. Was genau geschehen ist, wird der Bericht der schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) zeigen.
Hier ein Beispiel, wie über den Vorfall berichtet wurde.
Situation 2
Entgleisung Zwei-Wege-Bagger
Was ist hier passiert? Bei Bauarbeiten in einem Gleisabschnitt ist ein Bagger aus den Schienen gesprungen. Er konnte sich selber wieder eingleisen und es wurde niemand verletzt. Der Zugverkehr wurde auch nicht beeinträchtigt. Bilder gibt es von dem Vorfall keine. Das Gefahrenpotenzial des Ereignisses ist vorerst unklar.
Beim ersten Fall handelte es sich zum Glück «nur» um einen Güterzug und nicht um einen vollbesetzten Personenzug, der vom Aufprall betroffen war. Um einen solchen Fall in Zukunft verhindern zu können, muss analysiert werden, was genau passiert ist.
Beim zweiten Fall muss zuerst geklärt werden, wie gefährlich die Situation war und ob diese nur durch Glück keine weiteren Konsequenzen hatte. Erst dann kann entschieden werden, ob es zusätzliche Massnahmen für eine künftige Verhinderung benötigt.
Nur mit einer gründlichen Fehleranalyse können sinnvolle Massnahmen abgeleitet werden. Hierfür müssen die prägenden Rahmenbedingungen bekannt sein.
Rahmenbedingungen der zwei Vorfälle (Inputs der Teilnehmenden)
Situation 1 – Lok-Unfall |
Schaden inkl. Personenschaden |
Medieninteresse gross |
Fahrplanstörungen |
Viele Vorgaben/gute Ausbildung |
Vertrauensverlust in Bevölkerung |
Schaden ist offensichtlich |
Andere Player (Personen und Technik) im System berücksichtigen, Lokführer ist aber alleine |
«Eigene» Bahn-Mitarbeitende |
Offizialdelikt |
Wartung ok? |
Wetter und Sicht gut |
Ermüdung, Uhrzeit? |
Kontakt zu Hauptverursacher |
Erkennbar von anderen Parteien |
Qualifikation hoch/Experte |
Tätigkeit streng nach
Vorschrift (Pilot, Lokführer) |
Situation 2 – Bagger-Vorfall |
Kein Schaden |
Kein Interesse |
Kein Einfluss auf den
Fahrplan |
Geringe Ausbildung/Erfahrung
statt Vorgaben |
Kunden nicht betroffen |
Lernen aus Fehler (ohne Schaden) |
Baggerfahrer entscheidet selbst, arbeitet aber in einer Gruppe von Bauarbeitern |
Mitarbeiter einer Fremdunternehmung |
Müsste zur Anzeige gebracht werden |
Wartung ok? |
Nacht, Regen |
Ermüdung, Uhrzeit? |
Kontakt nicht mehr möglich (Ferienabwesenheit) |
Nicht erkennbar |
Qualifikation niedrig/Arbeiter |
Auch Improvisation
nötig (Bau, Medizin) |
Der Umgang mit Vorfällen beeinflusst die Unternehmenskultur
Je nach Rahmenbedingung der jeweiligen Situation ist die Lage anders zu beurteilen:
Werden auch dann Vorfälle gemeldet, wenn es keinen Schaden gab und wenn diese von anderen Parteien (von aussen) nicht erkennbar sind? Dann ist die Meldekultur vorbildlich.
Wenn es sich um ein Offizialdelikt handelt und/oder ein mediales Interesse besteht, werden die Vorfälle in jedem Fall bekannt. Allerdings müssen dann gegebenenfalls die Betroffenen geschützt werden. Bei einem Offizialdelikt kann es sein, dass Informationen aus der Meldung danach ein Teil der Anklageschrift darstellen. Hier ist Fingerspitzengefühl vom Unternehmen gefragt.
Wenn die direkt betroffene Person nach dem Vorfall nicht mehr direkt kontaktiert werden kann, dann werden die Abklärungen stark erschwert.
Die Gruppendynamik spielt bei Vorfällen auf Baustellen eine grössere Rolle als bei Lokführern. Der Lokführer ist allein im Führerstand und sagt nur für sich aus bei einer Befragung. Bei der Baugruppe hingegen wird der ganze Vorfall von verschiedenen Personen aus verschiedenen Perspektiven geschildert. Andererseits ist der Lokführer stärker von anderen externen Einflüssen (Technik, andere involvierte Personen usw.) abhängig.
Die Blitze markieren bei den Beispielen die Stellen, bei
denen die Kommunikation anspruchsvoller ist.
Erkenntnisse mit Tipps
Jeder Fall ist anders: Bei jedem Vorfall müssen die jeweiligen Umstände genau analysiert werden.
Um aus den Fehlern zu lernen und die Vorfälle so gut wie möglich einschätzen zu können, hilft Dir der Perspektivenwechsel. Frage Dich jedes Mal: «Wieso hat die Person in der jeweiligen Situation genau so gehandelt?»
Prüfe bei jedem Vorfall, ob es sich um einen systematischen Fehler handelt. Oft gab es zum Zeitpunkt des Vorfalls gute Gründe, dass sich jemand so und nicht anders verhalten hat. Systematische Fehler sind möglichst zu eliminieren. In diesem Sinne: Augen auf!
Bei der Überprüfung und der Suche nach den Fehlern sind immer die Grundsätze einer «Just Culture» zu beachten. Das Management muss sich zu diesen klar bekennen und sie vorleben. Die Grundsätze einer «Just Culture» sind:
- Wer legt fest, was toleriert wird und was nicht?
o Wann soll «Stopp» gesagt werden?
o Existiert eine «Fairness Guideline» zur Beurteilung von Fehlern? - Wie wird mit Fehlern umgegangen? Besteht im Unternehmen eine Fehlerkultur oder eine Strafkultur?
- Werden die Ereignisunterlagen nachfolgend auch für juristische Zwecke genutzt?
- Sind geeignete Meldesysteme vorhanden und die Regeln bekannt? Ist das Committment seitens Managements vorhanden?
- Besteht im Unternehmen eine Vertrauenskultur?
- Ist im Unternehmen das Bewusstsein für eine subjektive Sicht jedes einzelnen auf die Dinge vorhanden? (Niemand sieht alles – Perspektivenwechsel ist in jedem Fall nötig)
Fazit
Die Verantwortung, eine «Safety Culture» zu etablieren und nachhaltig zu betreiben, ist eine zentrale Aufgabe des Managements, mit Unterstützung von Fachexperten. Aber sie muss vor allem von den Mitarbeitenden tagtäglich gelebt werden. Sie kann nur funktionieren, wenn das Bewusstsein jedes Einzelnen und somit aller Beteiligten nicht nur für die Risiken vorhanden ist, sondern auch für die eigene Verantwortung (Einhalten der Vorgaben, Meldepflicht etc.) und wechselseitige Loyalität bzw. dem gegenseitigen Vertrauen.
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Text: Anja Zell