Die Ausgaben für Gesundheit steigen in der Schweiz jedes Jahr kontinuierlich an. Darauf reagiert der Bundesrat mit staatlicher Planung und verabschiedet sich vom bewährten «regulierten Wettbewerb».
Claudio Della Giacoma ist Geschäftsführer der Clienia Gruppenpraxen AG und Präsident der Fachgruppe Gesundheit und Soziales der FDP Kanton Thurgau. In unserem QQ-Impuls «Die Gesundheitsbranche im Spannungsfeld zwischen Politik und Unternehmertum» beleuchtete er Problemstellungen wie auch Lösungsansätze und gab eine Übersicht zu aktuellen gesundheitspolitischen Debatten und Geschäften.
Die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen: Mengenproblem statt Kostenproblem
Bei der
Kostenentwicklung im Gesundheitswesen wird immer wieder von einer «Kostenexplosion»
gesprochen. Wenn man die Entwicklung aber mit der des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
vergleicht, sieht man, dass sich die Kurve linear - also im Verhältnis zum BIP
- bewegt. Das heisst, es gibt gar keine «Kostenexplosion» in dem Sinne. Das
Problem liegt woanders: In der Anzahl der bezogenen Leistungen. Je mehr bezogen
wird, desto mehr steigen die Kosten.
Da die Leistungen der
Grundversicherung obligatorisch sind, können sie von allen jederzeit in
Anspruch genommen werden. So werden immer mehr Leistungen bezogen, ohne den
Nutzen bzw. die Kosten zu hinterfragen. Wir sind in der
Schweiz verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschliessen. Man zahlt dafür,
ob man will oder nicht. Also kann man die Leistung getrost in Anspruch nehmen.
Wir haben demzufolge keine «Kostenexplosion», sondern ein Mengenproblem!
Wäre es nicht sinnvoller, den KVG-Leistungskatalog zu prüfen und neu festzulegen, welche Leistungen in der Grundversicherung inkludiert werden und für welche Leistungen zusätzlich bezahlt werden sollen? Der Bund geht einen anderen Weg:
Staatliche Planung als Antwort auf die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen
Die staatliche Planung mit Versicherungs- und Vertragszwang, Preis- und Tarifkontrollen sowie die Finanzierung durch Krankenkassen und Kantone haben einen Sektor geschaffen, der durch viele Regulatoren und wenig Markt geprägt ist. Mit Goodwill kann man noch von einem «regulierten Wettbewerb» sprechen. Doch tatsächlich findet im Schweizer Gesundheitswesen immer mehr Regulierung und immer weniger Wettbewerb statt.
Eine kleine Anekdote hierzu: In der bundesrätlichen Botschaft und den Erläuterungen zu zwei Massnahmenpaketen, mit denen man die Kostenentwicklung in den Griff bekommen möchte, wird der Begriff «Steuerung» 169 Mal erwähnt, das Wort «Wettbewerb» taucht hingegen nur 19 Mal auf.
Wer das alles als Zahlenspielerei abtut, der blicke auf die Details diverser vorgeschlagenen Massnahmen des Bundesamts für Gesundheit (BAG):
Um «die Gesamtsteuerung des Gesundheitswesens» zu verbessern, hat der Bund verschiedene Massnahmen eingeläutet, die auf der nebenstehenden Folie aufgeführt sind. Doch was bringen diese Massnahmen?
Das Beispiel Rechnungskopien für die Versicherten: Dies hätten dazu führen sollen, dass die Patientinnen und Patienten die Leistungen der Ärzte bzw. Ärztinnen und Spitäler überprüfen. Das machen sie aber erfahrungsgemäss nicht, da die Kosten nicht von den Patientinnen und Patienten übernommen werden müssen und sie selbst gar nicht im Detail einschätzen können, ob die abgerechneten Leistungen stimmig sind. Auf der anderen Seite verursacht diese Massnahme mehr administrativen Aufwand für die Leistungserbringer: Tausende Rechnungen werden informationshalber per Post an Patientinnen und Patienten versendet.
Der Bund verfolgt eine «Salamitaktik. Massnahmen werden häppchenweise umgesetzt. Einzeln betrachtet haben diese keine so grossen Auswirkungen, doch zusammengefasst schon: Die vielen einzelnen Salamischeiben sind im Ganzen immer schwerer für das Gesundheitswesen zu verdauen.
Im KVG heisst es, dass die von den Medizinern erbrachten Leistungen «wirtschaftlich» sein müssen. Wo sind bei der staatlichen Planung die unternehmerischen Ansätze? Und wie profitiert der Patient bzw. die Patientin von all diesen Massnahmen?
Auf nationaler Ebene könnte wiederum durch die systematische Anwendung von Health Technology Assessments (HTA) gewährleistet werden, dass von der obligatorischen Krankenversicherung nur Leistungen vergütet werden, die den WZW-Kriterien entsprechen. HTA stellt eine Methode zur Beurteilung bestehender oder neuer medizinischer Leistungen aus medizinischer, ökonomischer, gesellschaftlicher, ethischer und juristischer Sicht dar. HTA zielt darauf ab, evidenzbasierte Grundlagen für Entscheidungen über die Ressourcenallokation und somit für die Vergütung von Leistungen zur Verfügung zu stellen.
Umgesetzt wurde leider noch nichts. Dabei wäre dies gemäss Claudio eine gute Lösung, um die Kosten in den Griff zu bekommen.
Ein weiterer Lösungsansatz läge in der Überprüfung des KVG-Leistungskatalogs: Welche Leistungen können und wollen wir uns in Zukunft leisten? Benötigen wir einen Bentley, um von A nach B zu fahren? Das sind sehr kritische Fragen, vor denen sich Politiker scheuen, da die Akzeptanz bei den Wählern, Abstriche zu machen, nicht sehr gross sein dürfte.
Die zunehmende Verlagerung nach dem Grundsatz «ambulant vor stationär» von den teureren stationären zu den günstigeren ambulanten Behandlungen ist gesamtwirtschaftlich gewünscht und sinnvoll. Stationäre Leistungen werden von den Kantonen mitfinanziert, ambulante Leistungen jedoch nicht.
Die stationären
Kosten für medizinische Behandlungen werden heute zu 55% durch die Kantone und
zu 45% durch die Krankenversicherungen gemeinsam getragen. Die ambulanten Kosten
hingegen werden vollständig (100%) durch die Krankenversicherer und somit durch
die Prämien ihrer Versicherten gedeckt. Die unterschiedliche Finanzierung führt
folglich zu Prämienerhöhungen, weil die ambulanten Leistungen zunehmen. Eine
einheitliche Finanzierung könnte hier entgegenwirken und Fehlanreize
verhindern. Die «Einheitliche Finanzierung» (EFAS) ist seit 12 Jahren pendent.
Chancen der Digitalisierung nutzen
In einer Endlosschlaufe sind Politik und Bund daran, das Gesundheitswesen krank zu regulieren. Einen Ausweg würde die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung bieten: Administrative Aufwände könnten vereinfacht, Transparenz im System erhöht und die integrierte Versorgung umfassend realisiert werden. Obschon die Corona-Kriese in vielen Bereichen die Digitalisierung beschleunigt hat, hinkt das Schweizer Gesundheitswesen bei der digitalen Transformation im internationalen Vergleich hinterher.
Eine Studie von McKinsey und der ETH zeigt eine mögliche Kostenreduktion von bis zu 8,2 Mrd. Franken jährlich, das entspricht rund 1% des BIP. Für die Berechnung sind in drei Gruppen 26 digitale Gesundheitstechnologien untersucht worden. Besonders betont werden dabei
- die Möglichkeiten der Effizienzsteigerungen bspw. durch Automatisierung,
- die digitale Entscheidungsunterstützung der Leistungserbringen und Kostenträger sowie
- die Reduzierung der Patientennachfrage z.B. durch Datenaustausch oder durch Selbstbehandlung.
Bei der Digitalisierung kann vor allem die Effizienz gesteigert werden:
- administrative Aufwände vereinfachen
- Transparenz im System und die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung erhöhen
- Integrierte Versorgung umfassend sicherstellen
Leider scheitert es am Datenschutz, der den nötigen Technologiesprung verhindert. Es benötigt eine neue Gesetzesgrundlage, um die Digitalisierung voranzutreiben. Das elektronische Patientendossier (EPD) wird nie vollumfänglich umgesetzt werden können, solange nicht alle Stakeholder involviert sind und die rechtliche Basis für den Datenaustausch angepasst wird.
Irrungen und Wirrungen im VVG-Bereich
Das Versicherungsvertragsgesetzt VVG regelt unter anderem die Zusatzversicherungen, also Leistungen, die nicht in der obligatorischen Grundversicherung abgedeckt sind. Die letzte Teilrevision wurde vom Parlament am 19. Juni 2020 angenommen und ist ab 1. Januar 2022 in Kraft getreten.
Das VVG wird nicht von der FINMA überwacht. Das heisst, eine Preiskontrolle findet nicht statt. Deshalb sah sich der Bund gezwungen, einzugreifen. Diese Regulierung führt unweigerlich dazu, dass zukünftige Zusatzversicherungsprodukte eingedämmt werden bzw. die Angebotsinnovation wird eingeschränkt. Versicherungsanbieter haben keinerlei Anreize, neue Produkte im Bereich der Zusatzversicherung zu entwickeln.
Zusammengefasst gibt es vier Punkte, welche die Vorstösse aus der Politik aufzeigen:
Kostendämpfungspaket: Dabei werden weder Menge noch Angebot unter die Lupe genommen – der Fokus liegt nur auf den Kosten. Das ist leider sehr einseitig und wird wenig zielführend sein.
Neue Qualitätsanforderungen für Leistungserbringer: Die Qualitätsanforderungen steigen stetig. Deren Einhaltung wird immer aufwändiger: Neue Qualitätsanforderungen bedeuten mehr Kontrolle und dies wiederum mehr Administration, was wiederum höhere Kosten bedeutet. Auch hier fehlt es auf der Seite der Regulatoren häufig an Fachkompetenz, um Sinnhaftigkeit und Ergebnisorientierung von neuen Massnahmen kritisch zu hinterfragen.
Globalbudget: Durch die festgelegten Budgets pro Jahr können die Leistungen den Versicherten nicht mehr bedürfnisgerecht und zeitnah erbracht werden. Ist das Budget eines Spitals für Knieoperationen beispielsweise im Oktober erreicht, müssen Patientinnen und Patienten das nächste Jahr abwarten, bis der Eingriff durchgeführt werden kann.
Verstärkte ambulante Zulassungssteuerung: Kantone beschränken die Zulassung für Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Bereich und erschweren die Zulassung ausländischer Fachkräfte. Dadurch wird die Problematik des Ärztemangels vor allem in ländlichen Gebieten verstärkt.
Der regulierte Wettbewerb – Schönfärberei?
Hier ein paar Fakten zum «regulierten Wettbewerb» im Schweizer Gesundheitswesen:
- Für die Strategie Gesundheit2020 wurden 102 Massnahmen definiert: 60 vom Staat, 41 von Privaten und 1 von der Bevölkerung. Das einzig messbare Ziel ist eine Kosteneinsparung von 20%.
- In der Expertengruppe Kostendämpfung wurden 38 Massnahmen festgelegt – mit keinem einzigen messbaren Ziel.
- Neu kommt die Strategie Gesundheit 2030 hinzu.
«Das Gesundheitswesen wäre wohl besser dran ohne Politik», meine Claudio. Es bräuchte Entscheider in der Politik, die im Gesundheitswesen tätig sind und selbst agieren möchten, ohne von den staatlichen Regulatorien aufgehalten zu werden. Der regulierte Wettbewerb bringt keine Lösungen. Die Folie zeigt die heutige Situation: In der Gesamtheit der Massnahmen wird eher der Eindruck einer Planwirtschaft denn eines regulierten Wettbewerbs erweckt.
Fazit
Dürfen wir uns überhaupt ein Urteil darüber bilden, was wer an Leistungen erhält? Um die Kosten in den Griff zu bekommen, müsste das Gesundheitsweisen grundsätzlich betrachtet werden: Welche Leistungen wollen und können wir uns in Zukunft leisten? Wie können Prozesse – vor allem die administrativen – vereinfacht werden, ohne an Transparenz zu verlieren? Wie wirtschaftlich darf das Gesundheitswesen arbeiten – wie kann ein (gesunder) Wettbewerb erreicht werden? Hierfür muss tiefer gegraben werden.
Gewiss, man könnte an der Komplexität des Gesundheitswesens fast verzweifeln. Und zum Teil hat man den Eindruck, dass Politiker und Krankenversicherer besonders gut im Jammern sind. 😉 So kam der Vorschlag zur staatlichen Kostenbremse vor wenigen Jahren ausgerechnet von einem Krankenversicherer. Ist die Lage denn derart hoffnungslos, dass man die Verantwortung lieber an den Bund delegiert?
Claudio ist anderer Meinung: Es gibt Wege, bei denen die Akteure selbst anpacken, um eine effiziente und gute Versorgung sicherzustellen. Was nicht wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich ist – wie bspw. die umstrittenen Kniespiegelungen –, gehört nicht in eine staatliche Grund-, sondern in eine private Zusatzversicherung, die sonst zunehmend ausgehöhlt wird.
Einfach ausgedrückt: Man kommt auch mit einem Mittelklassenwagen komfortabel von A nach B. Nicht alle möchten einen Bentley fahren.
Leider wandelt man bis dato im Schweizer Gesundheitswesen lieber weiter auf ausgetretenen Pfaden, beklagt sich über die bösen Tarifpartner, fürchtet sich aber gleichzeitig vor allem, was nach etwas Wettbewerb aussieht. Da darf man sich nicht wundern, wenn der Bund in das Vakuum vorstösst. Wer macht den ersten Schritt, damit im «regulierten Wettbewerb» unseres Gesundheitswesens wieder mehr Wettbewerb zur Geltung kommt? Claudio hat ihn bereits gemacht mit seinen interessanten Einblicken beim QQ-Impuls. Herzlichen Dank!
Die Gesundheitsbranche im Spannungsfeld zwischen Politik und Unternehmertum
Video und Präsentation QQ-Impuls
Wir haben Dir den gesamten QQ-Impuls aufgezeichnet, so dass Du Dich auch im Nachhinein über dieses interessante Thema informieren kannst.
Zudem findest Du hier die Präsentation von Claudio Della Giacoma.
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Text: Anja Zell